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Foren-Übersicht | Schule / Ausbildung | Eine Schule für alle - Quelle aus junge Welt
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Wcrjanny  35  Themen-Starter ● gepostet am Freitag, 29.04.05 um 13:15:12 ●
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»Eine Schule für alle« statt früher Selektion

Mit dem Modell einer integrativen Schulform bis zur 10. Klasse will die GEW das dreigliedrige Schulsystem mittelfristig ablösen

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist zweifellos in einer schwierigen Situation. Die Organisation leidet unter Mitgliederschwund und Überalterung und befindet sich angesichts immer dreisterer Vorstöße der »Arbeitgeber« gegen tarifliche Standards und der fortschreitenden Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse im sozialen und Bildungsbereich eindeutig in der Defensive.

Da ist es fast ein Hoffnungsschimmer, daß durch die PISA-Studie der im internationalen Vergleich erbärmliche Zustand des deutschen Bildungswesens vom Rand ins Zentrum der politischen Diskussion gerückt wurde. Es gebe inzwischen einen breiten gesellschaftlichen Konsens, daß das Bildungssystem reformiert werden müsse, um das Bildungsniveau der deutschen Schüler zu heben und die Anzahl der Studienberechtigten zu erhöhen, so die auf dem GEW-Gewerkschaftstag in Erfurt in ihrem Amt bestätigte stellvertretende Bundesvorsitzende Marianne Demmer auf einer Pressekonferenz am Dienstag. Selbst in konservativen Kreisen bestreite niemand mehr die Notwendigkeit, der sozialen Auslese entgegenzuwirken, die das jetzige Schulsystem präge. Die Erlangung der Hoch- oder Fachhochschulreife müsse in absehbarer Zeit zum Normalfall werden, da sei man sich auch mit den Unternehmerverbänden einig.


Einheitlicher Abschluß

Die Frage ist nur, wie das erreicht werden kann. Die GEW habe einsehen müssen, daß ihr in den 70er Jahren entwickeltes Konzept einer integrierten Gesamtschule als alleiniger Schulform gescheitert ist, so Demmer. Das neue Motto der GEW lautet »Eine Schule für alle« und setzt den voneinander abgegrenzten Bildungsgängen des dreigliedrigen Schulsystems, eine »Schule der Vielfalt« entgegen, die auf individueller Förderung statt auf Herabstufung und Ausgrenzung vermeintlich »leistungsschwacher« Schüler basiert.

Kernpunkte einer solchen zehnjährigen »Schule für alle« wären der Verzicht auf Selektionsmechanismen wie »Sitzenbleiben« oder Verweis auf eine minderqualifizierende Schulform und die Orientierung auf einen einheitlichen Abschluß der Sekundarstufe 1, der die bisherigen Haupt- und Realschulabschlüsse beziehungsweise das Versetzungszeugnis in die Oberstufe an Gymnasien ersetzen würde. Grundsätzlich soll dieser Abschluß den Besuch der gymnasialen Oberstufe ermöglichen, sofern ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht wird.


Lange Übergangsphase

Mit der alten Forderung nach einer zehnjährigen Einheitsschule habe das nur bedingt zu tun, betonten Demmer und der neue GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne. »Wir glauben nicht und wollen auch nicht, daß uns der Staat eine Schule hinstellt«, so Thöne. Die »Schule für alle« müsse dezentral entwickelt werden und auf den unterschiedlichen regionalen Bedingungen und Erfahrungen aufbauen. Gerade in ländlichen Regionen seien beispielsweise Hauptschulen oftmals besser als ihr allgemeiner Ruf und böten das Potential für qualifizierte Bildung und entsprechende Abschlüsse. Angesichts der demographischen Entwicklung seien Schulfusionen ohnehin unausweislich.

Demmer sieht die Entwicklung der »Schule für alle« als Prozeß mit einer längeren Übergangszeit. In einem Antrag an den am Mittwoch zu Ende gegangenen Gewerkschaftstag hießt es dazu: »Bestehende Schulen sollen nicht zerschlagen oder abgeschafft werden. Sie sollen vielmehr zu integrativen und inklusiven Systemen weiterentwickelt oder zusammengeführt und mit einem pädagogischen Auftrag versehen werden, der sowohl zum Bildungsabschluß der Sekundarstufe 1 wie zu den berufsbezogenen und allgemeinen Abschlüssen der Sekundarstufe II führt.« Nur so könne ein von demographischen Schwankungen weitgehend unabhängiges, gut erreichbares und vollständiges Bildungsangebot gesichert werden«.

Demmer ist sich auch durchaus bewußt, daß die neue Schulform wenigstens für eine längere Übergangszeit in Konkurrenz zu den grundständigen Gymnasien wird leben müssen. Dieser Wettbewerb müsse »fair ausgetragen werden«. Das bedeute auch, daß die Mittelverteilung für die verschiedenen Schulformen an das soziale Umfeld und die daraus resultierenden Fördernotwendigkeiten gekoppelt werden müßte.

Thöne sieht die Möglickeit. besonders in ländlichen Regionen eine »räumliche Entzerrung« vorzunehmen. Er könne sich durchaus vorstellen, daß Kommunen sich darauf verständigten, jeweils nur eine der beiden Mittelstufenformen anzubieten. Schließlich würde das für Schüler, die dann kein Gymnasium in der Nähe besuchen könnten, keinen Nachteil bedeuten, da der Abschluß der 10. Klasse der »Einen Schule für alle« den Besuch der gymnasialen Oberstufe ermöglichen würde. Viele Fragen eines Nebeneinanders von selektiven und nichtselektiven Schulformen müßten jedoch noch geklärt werden.


Hauptschulen integrieren

In dem Antrag werden dazu konkrete gesetzgeberische Maßnahmen vorgeschlagen: »Die Schulgesetze der Länder sollen zumindest für die kommunale Ebene ein ausschließlich integratives / inklusives Schulangebot in der Sekundarstufe 1 sowie die Zusammenführung von Primär- und Sekundarstufe 1 ermöglichen. Dies kann sowohl durch die integrative Weiterentwicklung von Einzelschulen wie durch die Zusammenführung von Schulen geschehen. Ziel ist in jedem Fall ein vollständiges kommunales Bildungsangebot. Der Hauptschulbildungsgang soll als eigenständiger Bildungsgang aufgegeben werden können. Bestehende Hauptschulen sollen die Möglichkeit erhalten, sich zu einem vollständigen Bildungsangebot der Sekundarstufe 1 zu entwickeln. Wo dies nicht sinnvoll oder möglich ist, sollen die Hauptschulen mit anderen Schulformen zu einem vollständigen Schulangebot zusammengeführt werden. Der abstufende Schulwechsel soll – zumindest nach der Erprobungsstufe – nicht mehr möglich sein. Jede Schule ist verpflichtet, die Schülerinnen und Schüler, die sie aufgenommen hat, zu behalten und zu fördern.«

Die Umsetzungschancen ihres Konzeptes beurteilen die GEW-Vorstandsmitglieder durchaus optimistisch. Zwar werde die Schulpolitik noch immer für »parteipolitische Grabenkämpfe mißbraucht«, doch in immer mehr Bundesländern – auch CDU-regierten habe »ein Umdenkungsprozeß begonnen«, betonten Thöne und Demmer. Überzeugungsarbeit müsse jedoch auch noch in der eigenen Organisation geleistet werden.


Nachlese: Die GEW beendete am Mittwoch in Erfurt ihren 25. Gewerkschaftstag

Die Verabschiedung eines umfangreichen bildungspolitischen Reformkonzepts stand im Mittelpunkt des 25. Gewerkschaftstages der GEW, der am Mittwoch in Erfurt beendet wurde. Nachdem sich der Kongreß in den ersten drei Tagen fast ausschließlich mit Vorstandswahlen beschäftigt hatte, wurden ab Dienstag nachmittag quasi im Schweinsgalopp noch gut 50 der insgesamt über 70 Anträge, die dem Gewerkschaftstag vorlagen, beraten und abgestimmt.

Als einen der Kernpunkte des Reformkonzeptes bezeichnete der Vorsitzende Ulrich Thöne in seiner Abschlußrede die Ausbildung aller Pädagogen an Hochschulen. »Wir müssen die Chinesische Mauer zwischen den einzelnen Berufsgruppen im Bildungsbereich abtragen«, so Thöne. Der einheitlichen Grundausbildung für alle pädagogischen Berufe solle ein arbeits- und berufsfeldbezogenes Hauptstudium folgen. Wechselten Pädagogen in andere Berufe im Bildungsbereich, sollten sie entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen nutzen können. Mit der Umsetzung eines derartigen Konzeptes, das in einigen europäischen Ländern seit Jahren erfolgreich praktiziert wird, wäre endlich »Schluß mit der Einbahnstraßen-Ausbildung von Pädagogen. Es ermöglicht den Wechsel vom Lehrer zum Weiterbildner oder an die Kita und umgekehrt«, betonte Thöne. Dies erhöhe die Kompetenz der Lehrenden und führe zu größerer Berufsunzufriedenheit.


Dokumentiert: Schlüsse aus PISA

Die 2001 erstmals erstellte PISA (Programme for International Student Assessment)- Vergleichsstudie zum durchschnittlichen schulischen Entwicklungsstand von 15jährigen Schülern in 41 Staaten belegt außer der unterdurchschnittlichen Lesekompetenz deutscher Schüler auch, daß in keinem anderen entwickelten Land ein ähnlich enger Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den Bildungschancen besteht.

In einer GEW-Studie mit dem Titel »3 Jahre nach Pisa« vom November 2004 heißt es dazu: »Bildungsarmut findet sich vor allem in Arbeiter- und Migrantenhaushalten«. Das betrifft keineswegs nur die untersten sozialen Schichten. »Ein Kind aus einem Akademikerhaushalt hat durchschnittlich gegenüber einem Kind aus einem Facharbeiterhaushalt eine sechs Mal so große Chance, ein Gymnasium zu besuchen. ›Benachteiligungsweltmeister‹ ist Bayern, wo die genrelle Chance eines Facharbeiterkindes, das Gymnasium zu besuchen, 10,5mal schlechter ist. Selbst wenn die kognitiven Kompetenzen und die Lesefähigtkeit gleich sind, sind die Chancen des Facharbeiterkindes dreimal geringer (in Bayern sechsmal)(...)

Die Gründe für die Benachteiligung durch das Schulsystem selbst liegen im frühen Sortieren in unterschiedlich anspruchsvolle Schulformen und in der Tradition der Halbtagsschule. Die vierjährige Grundschulzeit ist zu kurz, um herkunftsbedingte Benachteiligungen, vor allem Verzögerungen in der Sprachentwicklung, auszugleichen.(...)

Eine weitere strukturelle Benachteiligung folgt aus der Halbtagsschule. Diese macht die nachmittägliche Unterstützung durch die Familie notwendig. Wenn diese Unterstützung dort nicht geleistet wird, vervielfachen sich die benachteiligenden Effekte. Sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler müssen besonders oft eine Klasse wiederholen. Bei männlichen Migrantenkindern beträgt dieser Anteil 50 Prozent. (...)

Doch nicht nur der Zugang zu höheren Schulzweigen und Bildungsabschlüssen wird Arbeiterkindern unverhältnismäßig schwer gemacht. (...) Es ist vielmehr ganz offenkundig, daß die schulformspezifischen Milieus in Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien unterschiedliche Lernzuwächse ermöglichen. Anders ausgedrückt: An Hauptschulen lernen vergleichbar intelligente Schüler weniger als an Realschulen oder Gymnasien. In der PISA-Studie heißt es dazu: »Auch bei gleichen kognitiven Grundfähigkeiten und identischem sozioökonomischen Status ist die Leistung eines Gymnasiasten 49 Punkte (das entspricht 1,5 Schuljahren) höher als die eines Hauptschülers«.
 

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